Springt man in seinen Erinnerungen ein paar Jahre zurück, sitzt man wieder bei Oma auf dem Ecksofa, schlürft einen warmen Kakao und lässt sich von nostalgischen Erzählungen aus dem Fotoalbum berieseln. Heutzutage nehme ich mein Smartphone in die Hand und zeige meinen Kollegen die Bilder vom Wochenendausflug schon Montagmorgen in der Bahn. Die Technik macht’s möglich.
In Deutschland nutzen so viele Menschen Social-Media-Dienste wie noch nie. Ganze 84 Prozent gehen mittlerweile mit ihren Smartphones ins Internet. In der Altersgruppe von 14 bis 49 Jahren ist nahezu jeder online. Besonders beliebt: Videos. Bewegtbilder sind nicht ohne Grund das beliebteste Medium, denn sie transportieren Eindrücke und Gefühle gleich über mehrere Sinne: Audiovisuell über Ton und Bild. Egal, ob auf Facebook, auf YouTube oder auf Snapchat: Steigende Kapazitäten für Datenvolumen oder gar mobiles Internet ohne Grenzen machen es möglich, Videos auch unterwegs anzusehen – ganz ohne schlechtes Gewissen.
Snapchat – der Reiz des Vergänglichen
Fragt man Snapchat-Gründer Evan Spiegel, stellt das größte Social Network der Welt keine direkte Konkurrenz dar: Facebook ist ideal für geplante Posts und Meilensteine im Leben – beispielsweise bei einem Umzug, wenn ein neuer Job angetreten oder das Elternwerden gefeiert wird. Snapchat allerdings ist für das Alltägliche gedacht. Für all die kleinen Momente, die wir erleben und die wir mit unseren Freunden teilen möchten.
Spiegel erklärt das Konzept von Snapchat damit, dass Bilder mittlerweile anders genutzt werden. Bevor die Smartphones unser Leben erobert haben, war die Digitalkamera die einzige Fotoquelle. Schnappschüsse aus dem Urlaub wurden nach der Heimkehr gesichtet und aussortiert. Nur die besten fanden ihren Weg in das persönliche Facebook-Profil. Durch die ständige Verfügbarkeit der Smartphones hat sich dies geändert. Gerade jüngere Zielgruppen nutzen Fotos nicht mehr nur, um besondere Momente festzuhalten. Fotos werden ganz selbstverständlich dazu benutzt, um sich miteinander zu unterhalten. Dabei habe ich die Möglichkeit, die Snaps entweder privat an ausgewählte Kontakte oder an meine persönliche “Story” zu schicken. Stories können von allen Kontakten angesehen werden – allerdings nur für 24 Stunden, danach sind die Inhalte verschwunden.
Die Momente, die Spiegel beschreibt, können erst einmal alles sein: Schöne Naturaufnahmen, ein kurzer Clip eines beeindruckenden Straßenmusikers oder ein Foto, das unseren aktuellen Gemütszustand wiedergibt. Dadurch, dass die sogenannten “Snaps” nur wenige Sekunden angezeigt werden, entsteht eine Unverbindlichkeit. Die Inhalte auf Snapchat entstehen spontan, sind schnell geschossen und ebenso schnell wieder vergessen. Niemand soll sich Sorgen darüber machen, wie seine Fotos am nächsten Tag wirken. Diese Kurzlebigkeit sorgt dafür, dass es in den Snapchat Stories meistens eher oberflächlich zugeht. Jeder zeigt nur das von seinem Alltag, was er zeigen möchte. Politische und gesellschaftliche Themen sind selten. Allein schon dadurch, dass Videos auf Snapchat nicht länger als 10 Sekunden sein dürfen.
Die Geschichten, die über Snapchat erzählt werden, erzeugen eine Nähe zum Zuschauer. Wohl auch ein Grund, warum sich immer mehr Prominente, aber auch Marken und NGOs dem Netzwerk zuwenden. Gute Snapchatter stellen Zusammenhänge zwischen ihren Snaps her – ob bei einer Veranstaltung, auf einer Reise oder der eigenen Hochzeit. Über die Stories-Funktion kann das Event später nacherlebt werden, wie es in chronologischer Reihenfolge passiert ist. Auf Snapchat erhalte ich einen Einblick in das Leben einer anderen Person. Es fühlt sich echt und unmittelbar an.
Die Nischenidee als Erfolgskonzept
Doch warum ist Snapchat so erfolgreich? Ein großer Erfolgsfaktor ist sicherlich die Einfachheit der Anwendung. Ein Snap ist in Sekundenschnelle aufgenommen, mit einem ansprechenden Filter versehen (zum Beispiel von dem aktuellen Aufenthaltsort) und – je nach Wunsch – mit Emojis, Schrift und Farbe verziert. Vergleichen wir die Contenterstellung einmal mit YouTube: Einem erfolgversprechenden Video auf Googles Videoplattform geht ein großer Produktionsaufwand voraus: Video aufnehmen, schneiden, nachberarbeiten und hochladen. Snapchat-Videos leben von ihrer Unmittelbarkeit und den einfachen Mitteln, mit denen sie erstellt wurden.
Je mehr Snaps geteilt werden, desto breiter ist das Interessengebiet, das auf dem Netzwerk vertreten ist. Und je mehr Interessen abgedeckt werden, desto attraktiver ist das Netzwerk für neue Nutzer. Höhere Nutzerzahlen machen neue Videokünstler auf die Plattform aufmerksam – und der Kreislauf geht weiter. Die Linie zwischen Inhaltsproduzent und -konsument verschwimmt auf Snapchat.
Ist Snapchat schon wieder uncool?
Während das Netzwerk mit dem freundlichen Geist lange Zeit als die Teenie-Plattform verschrien war, nehmen nun die Mittdreißiger Kurs auf die Plattform. Bis Ende des Jahres erwartet Snap Inc. (das Unternehmen hinter Snapchat) einen Anstieg von rund 4,5 Millionen Nutzern in der Zielgruppe zwischen 25 und 34 Jahren. Ist Snapchat etwa schon wieder uncool?
Es stellt sich die Frage, ob der Alterungsprozess in Snapchats Zielgruppe Einfluss auf die jungen Nutzer haben wird. Wenn sich bald auch die Eltern oder gar Arbeitgeber unter den Followern befinden, überlegt man besser zweimal, bevor man einen Snap zur eigenen Story hinzufügt. Ein Problem, das auch Branchenprimus Facebook nicht unbekannt ist. Schon seit Jahren hat das Netzwerk aus Palo Alto ein Problem damit, seine junge Zielgruppe zu halten. In einer amerikanischen Studie von 2014 sollten Schüler von 13 bis 17 Jahren den Online-Netzwerken Eigenschaften zuordnen. Nur 9 Prozent der Befragten sahen Facebook als “vertrauenswürdig” an. Sieger der Studie waren andere – namentlich Twitter und Pinterest, denen die Jugendlichen zu 30 beziehungsweise 40 Prozent “Vertrauenswürdigkeit” und “Fun” attestierten.
Die Shopping-Queen Mark Zuckerberg
Kurz vor dem Börsengang schnappte sich Facebook eine Einkaufstüte und ging auf Shopping-Tour. Für rund eine Milliarde Dollar wurde das Fotonetzwerk Instagram 2012 von der neuen Mutter adoptiert. Zwei Jahre später legte Facebook stolze 19 Milliarden Dollar für den beliebtesten Messenger-Dienst WhatsApp auf die Theke. Die Zielgruppe von Facebook ist riesig und durch unterschiedliche Interessen gekennzeichnet. Im Grunde möchte das Netzwerk für alle Internetnutzer eine Herberge bieten. Frische Ideen, die sich auf dem Markt durchsetzen, geraten somit immer häufiger ins Visier des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg. Kein Wunder also, dass Facebook ein so großes Interesse an Snapchat hegt. Immerhin hat sich der ehemalige Teenie-Dienst emanzipiert und wächst mit über 100 Millionen Nutzern (Stand: Januar 2016) weitaus schneller als Zuckerbergs Plattform. Nachdem Facebook vor drei Jahren mit seinem Milliarden-Deal bei Snapchat scheiterte, dachte man sich in Palo Alto wohl nun: “Besser gut geklaut, als schlecht selbstgemacht.”
Aus erneuter Adoption wird Adaption
Vor zwei Wochen teilte Zuckerberg mit, dass er mit dem Kauf von FacioMetrics (Preis noch unbekannt) dem Rivalen Snap den Kampf ansagen will. Das auf Gesichtserkennung spezialisierte Start-up verspricht neue Effekte für Bilder und Videos auf Instagram. Parallel dazu hat Facebook damit begonnen, Snapchat langsam aber sicher abzukupfern. Denn: Bis vor kurzem war es über Instagram nur möglich, Schnappschüsse von unterwegs zu tätigen und diese auf dem eigenen Profil abzulegen. Mit der Einführung von Stories im August dieses Jahres steuert Instagram immer mehr in Richtung Snapchat. Die Stories, mit denen es möglich ist, Bilder für 24 Stunden verfügbar zu machen, werden prominent in der oberen Leiste der Benutzeroberfläche angeheftet. Wenn ein Nutzer die App öffnet, fallen die bunten Story-Updates als Erstes ins Auge. Das zeigt, wie wichtig die Funktion für Instagram ist. Der Reiz, etwas Vergängliches wie auf Snapchat zu posten, fehlte allerdings bisher – weil ganz einfach die Hemmschwelle noch zu hoch war.
Jetzt, vor einigen Tagen, verkündete Instagram die Einführung von sich selbstlöschenden Direktnachrichten, die entweder an eine Einzelperson oder eine Gruppenkonversation geschickt werden können. Diese Funktion sorgte bei vielen Nutzern für große Überraschung (Achtung, Ironie!). Doch es kommt noch besser: In Kürze soll es Live-Stories geben, die – wie der Name schon impliziert – in Echtzeit vom Nutzer abgerufen werden können und sich danach automatisch löschen. Die Vergänglichkeit der spontanen oder sogar intimen Momente werden somit auch bald auf dem Fotodienst von Facebook möglich sein.
Kann Facebook die Zielgruppe von Snapchat abgreifen?
Die Instagram Live-Stories haben das Potenzial, die Nische für vergängliches Livestreaming zu besetzen. Bei dem Hauptkonkurrenten Periscope hatten die Nutzer zu Beginn 24 Stunden Zeit, einen Livestream nachzuholen. Mittlerweile ist dies nach Beendingung des Streams dauerhaft möglich – ähnlich wie bei der größten Livestreaming-Lösung Facebook Live.
Der Vorteil von Videos, die sofort nach Livestream-Ende gelöscht werden, liegt auf der Hand: Nutzer sollen sich so wenig Gedanken wie möglich machen, bevor sie loslegen zu streamen. Sitzt die Frisur richtig? Sind alle gefilmten Personen damit einverstanden, später im Video aufzutauchen? All das soll auf Instagram keine Rolle mehr spielen. Nicht groß planen, auf Live drücken und den Moment mit seinen Instagram-Followern teilen.
So schnell wird Zuckerberg eingefleischte Snapper nicht von Instagram Stories überzeugen können. Sicherlich werden viele die neuen Funktionen des Fotonetzwerks einmal ausprobieren oder sogar zukünftig eine Art “Doppelleben” auf beiden Plattformen führen. Hauptsächlich aus dem Grund, weil die Facebook-Tochter mit rund 500 Millionen Nutzern (Stand: Juli 2016) ein deutliches Plus an Reichweite bietet. Ob das Abkupfern von Snapchat langfristig Erfolg haben wird, hängt wohl maßgeblich von der Frage ab, ob Instagram es schafft, seine unterschiedlichen Zielgruppen zufriedenzustellen. Bis 54 Jahre sind alle Altersgruppen auf dem Netzwerk vertreten. Etablierte Instagram-Nutzer wie z.B. Fotografen werden nicht begeistert sein, wenn die neuen, “flippigen” Features weiterhin so prominent beworben werden. Alle Nutzergruppen auf Instagram unter einen Hut zu bekommen, das wird die Herausforderung der nächsten Monate sein.